
Die wissenschaftlichen Ansätze aus den Bereichen der Pädagogik und Didaktik sind Spiegelbilder unserer Gesellschaft. Lange Zeit war der frontale Unterricht ein fester Bestandteil im Schulalltag. Lehrpersonen fungierten als Vermittler von Fachkenntnissen. Schülerinnen und Schüler waren die Adressaten. Sie nahmen die visuellen oder auditiven Impulse auf, notierten wichtige Erkenntnisse in kurzen Stichworten und konnten ihr Wissen im besten Fall erweitern. Für die Vertiefung der neuen Fachkenntnisse bekamen sie Hausaufgaben, die nach Schulschluss zu Hause bearbeitet wurden.
Dieses Unterrichtsmodell wird bis heute an den Schulen genutzt. Allerdings stellt der Frontalunterricht nicht die einzige didaktische Methode dar, die Lehrkräfte in den Schulstunden einsetzen. Im 'modernen Klassenzimmer' geht der Trend in Richtung Eigenverantwortlichkeit und Selbstständigkeit. Lehrerinnen und Lehrer sind nicht mehr ausschließlich Wissensvermittler, sondern leiten ihre Schülerschaft zum eigenständigen Erwerb von Fachkenntnissen an. Das Konzept des Flipped Classroom definiert sowohl den Unterrichtsablauf als auch die Rollen der Beteiligten neu. Im Gegensatz zum klassischen Unterricht wird das Erarbeiten von neuem Fachwissen von der Schule in das private Umfeld verlagert.
Entstehung des Konzepts 'Flipped Classroom'
Der Ursprung des Flipped Classroom geht auf das Jahr 1984 zurück. Damals stellte die russische Pädagogin Militsa Nechkina das Konzept des umgekehrten Unterrichts als neues Modell der Wissensvermittlung vor. Die praktische Anwendung der Methode begann jedoch erst im Jahr 2007, als die US-amerikanischen Lehrer Aaron Sams und Jonathan Bergmann eine Unterrichtsstunde mit einem Videogerät aufzeichneten. Diese Aufzeichnungen ließen sie Kursmitgliedern zukommen, die zum Beispiel aufgrund von Krankheit nicht am Unterricht teilnehmen konnten.
Das Konzept wurde von beiden Lehrkräften in ihrem Werk 'Flip your Classroom' modifiziert. Bergmann und Sams betonten die unterschiedlichen Bedürfnisse der Lernenden, welche in den Unterrichtsstunden nicht immer in vollem Umfang gefördert werden können. Der Heimarbeitsplatz sei ein geeigneterer Ort zum Wissenserwerb: Jedes Klassenmitglied darf selbst entscheiden, wie schnell und auf welche Weise es sich mit den Videoaufzeichnungen neues Fachwissen aneignet. Dafür sei im regulären Schulunterricht nicht genug Zeit vorhanden.
Unterricht mit vertauschten Rollen
Flipped Classroom ist ein Gegenentwurf zur frontalen Wissensvermittlung. Eine alternative Bezeichnung für die Methode lautet 'Inverted Classroom', was sich als umgekehrter oder umgedrehter Unterricht in die deutsche Sprache übersetzen lässt.
Bei der frontalen Wissensvermittlung wird eine Trennung zwischen der Bildungseinrichtung und der Heimarbeit vorgenommen. Anders als beim Frontalunterricht werden die Unterrichtsstunden in der Schule nicht für das Vermitteln beziehungsweise den Erwerb von neuem Fachwissen genutzt. Der Unterricht dient der Reflexion des Erlernten. In einem Gespräch mit der Lehrkraft tauschen sich die Anwesenden über ihre Fortschritte beim eigenständigen Lernen aus.
Im Unterrichtsgespräch geben sich beide Seiten ein gegenseitiges Feedback. Die Klassenmitglieder berichten, wie sie mit dem selbstständigen Aneignen von neuen Fachkenntnissen zurechtgekommen sind. Konstruktive Kritik zu den hochgeladenen Dateien und ihren Inhalten lässt sich im offenen Gespräch mit den Anwesenden ebenso anbringen wie positive Rückmeldungen zu besonders lehrreichen Videos. Im Gegenzug gibt die Lehrkraft den Klassenmitgliedern ein umfassendes Feedback zu ihren Fortschritten und aktuellen Leistungsständen.
Beim umgekehrten Unterricht findet jedoch nicht nur ein Rollentausch zwischen den Lehrkräften und der Schülerschaft statt, sondern auch eine Umkehrung der Örtlichkeiten: Das schulische Umfeld ist nicht in erster Linie der Ort des Wissenserwerbs. Klassen- oder Kursräume werden für die praktische Anwendung der neu erworbenen Erkenntnisse genutzt.
Merkmale des Flipped Classroom – Zusammenfassung
- Der Wissenserwerb erfolgt in Heimarbeit
- Neue Fachkenntnisse werden selbstständig erworben
- Video-/Audiodateien dienen als Arbeitsmaterial
- Die Unterrichtsstunden in der Schule werden je nach Fach für Experimente oder Präsentationen über die eigenständig erarbeiteten Kenntnisse genutzt
- Lehrkräfte und Klassenmitglieder tauschen die Rollen
- Die Kommunikationstechniken werden durch den Austausch im Klassenverband gestärkt
Flipped Classroom – beispielhafter Verlauf
Die Methode lässt sich in drei Phasen gliedern. Bei der Vorbereitungsphase erstellt die Fachlehrkraft Arbeitsmaterial für die Klasse bzw. Gruppen. Die Erarbeitungsphase ist ein Selbststudium für die Schülerinnen und Schüler. In dieser Zeit arbeiten sie den Unterrichtsstoff zu Hause durch. Der Fachunterricht in der Schule ist die dritte Phase des Flipped Classroom: Die Arbeitsergebnisse werden zusammengetragen und in Form von kurzen Präsentationen vorgestellt. Den Referaten schließt sich das Unterrichtsgespräch an, welches von der Lehrkraft moderiert wird.
Klassenstufe: 7. Jahrgang, Thema: Das Alte Rom – die Eroberung Galliens
Vorbereitungsphase:
Die Lehrkraft lädt Videos in einer Cloud hoch, in denen sie den Schülerinnen und Schülern den Verlauf der Machtergreifung durch die Römer erklärt. Grafische Darstellungen wie Tafelbilder machen den Inhalt der Lernvideos anschaulicher. Die Videos werden hochgeladen und sind nun abrufbar. Es steht den Schülerinnen und Schülern frei, die Aufzeichnungen auf dem PC, Smartphone oder am Computer in der schuleigenen Mediathek anzusehen.
Erarbeitungsphase in Heimarbeit
Im Anschluss erfolgt das selbstständige Erarbeiten der Aufgaben. Auf diese Weise werden die Klassenmitglieder gefordert, den Stoff ohne fremde Hilfe zu bearbeiten und sich eingehend mit dem Thema zu beschäftigen.
Während der Erarbeitungsphase sollen die folgenden Fragen beantwortet werden:
- Wann fand die Machtergreifung der Römer in Gallien statt?
- Wer war maßgeblich daran beteiligt?
- Welchen Ereignissen (z. B. die Belagerung der Stadt Gergovia) kam eine besondere politisch-historische Bedeutung zu und aus welchem Grund?
- Wie endete der Krieg zwischen Römern und Galliern?
Das Erarbeiten eines Lösungsweges ist Aufgabe der Schülerschaft. Jedes Klassenmitglied arbeitet seine eigenen Lösungsansätze aus. Sie hängen vom Leistungsstand und den bevorzugten Arbeitsmethoden des Individuums ab. Die Antworten auf die Fragestellungen werden in der darauffolgenden Unterrichtsstunde präsentiert.
Fachunterricht
In den regulären Unterrichtsstunden stellen die Klassenmitglieder ihre Arbeitsergebnisse vor. Die Fachlehrkraft ist ebenfalls anwesend und leitet das Unterrichtsgespräch. Während der Vorträge macht sie sich Notizen zu den Inhalten der Referate. Darüber hinaus werden die Lernfortschritte der einzelnen Schülerinnen und Schüler beurteilt.
Anschließend findet ein Gespräch im Klassenverband statt. Die Anwesenden beantworten sich gegenseitig Fragen zu den Referaten. Die Fachlehrkraft leitet das Gespräch als Moderator; beim Austausch über die Inhalte haben in erster Linie die Schülerinnen und Schüler das Wort.
Vor- und Nachteile der Lehrmethode
Ist das Konzept des umgekehrten Unterrichts eine effektive Lehr- und Lernmethode? Für die Beantwortung dieser Frage müssen die Vor- und Nachteile der Methode abgewogen werden.
Vorteile
Ein entscheidender Vorteil besteht im selbstständigen und selbstverantwortlichen Erarbeiten von Fachkenntnissen. Bei der eigenständigen Arbeitsphase sind sie sowohl Lehrende als auch Lernende: Sie bringen sich selbst das Wissen bei, welches den hochgeladenen Dateien entnommen wird.
Die Förderung der Selbstständigkeit ist ebenso wie das orts- und zeitunabhängige Arbeiten ein Vorteil gegenüber frontal durchgeführten Unterrichtseinheiten. Anders als beim 'herkömmlichen' Unterricht im Klassenzimmer sind Schülerinnen und Schüler nicht an einen Stundenplan gebunden. Das Anhören oder Betrachten der hochgeladenen Dateien lässt sich unabhängig von Ort und Zeit vornehmen. Es gibt keine Vorgaben, wie oft eine Unterrichtseinheit wiederholt werden darf. Jedes Klassenmitglied richtet sich nach dem eigenen Lerntempo.
Die Methode wurde ursprünglich im Physikunterricht verwendet. Während des Fachunterrichts in der Schule führte die Lehrkraft mit der Klasse Versuche durch, die auf dem selbstständig erlernten Wissen basierten. Somit sorgt der Flipped Classroom für eine zeitliche Entzerrung, die auch für Lehrpersonen vorteilhaft ist. Lehrerinnen und Lehrern bleibt im Fachunterricht mehr Zeit für die praktische Anwendung des theoretischen Wissens.
Nachteile
Lehrerinnen und Lehrer haben den Anspruch, ihrer Klasse optimales Arbeitsmaterial zur Verfügung zu stellen. Beim Ansehen von Lernvideos sollen ein klares Bild und eine einwandfreie Akustik selbstverständlich sein. Der Kauf von technischen Geräten für die Aufzeichnungen des Unterrichts ist mit erheblichen Kosten verbunden, die nicht jede Schülerin bzw. jeder Schüler aufbringen kann.
Für viele Schülerinnen und Schüler ist ein direktes Feedback vonseiten der Lehrkraft wichtig. Beim Selbststudium nehmen beide Seiten keinen unmittelbaren Kontakt miteinander auf. Zudem können Lehrpersonen nicht prüfen, ob sich jedes Klassenmitglied außerhalb der Unterrichtsstunden tatsächlich mit dem Lernstoff beschäftigt und die Aufgaben in der dafür vorgesehenen Zeit lückenlos bearbeitet.
Die erstmalige Anwendung des umgekehrten Unterrichtsmodells ist vor allem mit einem technischen Aufwand verbunden. Alle Beteiligten müssen sich auf die neue Situation einstellen, was nicht immer auf Anhieb gelingt. Es braucht Zeit, bis Lehrkräfte und Klassenmitglieder problemlos im Flipped Classroom lernen und lehren können.
Lehrende sollten sich frühzeitig mit den möglichen Problemen des Flipped Classroom auseinandersetzen, bevor das Konzept im Unterricht angewandt wird.
- Ist sichergestellt, dass alle Kinder entsprechende technische Gerätschaften nutzen können?
- Wie nehme ich außerhalb des Unterrichts im Klassenraum mit der Schülerschaft Kontakt auf (E-Mail, Webcam etc.)?
- Sind die Lernvideos so konzipiert, dass auch weniger leistungsstarke Klassenmitglieder selbstständig mit ihnen arbeiten können?
Grundsätzlich ist Flipped Classroom ein geeignetes Konzept für höhere Klassenstufen. Jüngere Lernende sind mit den technischen Anforderungen und dem selbstständigen Arbeiten oft überfordert.
Schlusswort
Unterricht muss mit der Zeit oder genauer gesagt mit der modernen Pädagogik gehen. Gefragt sind bestmögliche Lernerlebnisse und -ergebnisse. Die Klassenmitglieder wagen sich motiviert an neue fachliche Inhalte heran und empfinden den Prozess der Wissensverarbeitung nicht als mühevoll. Solche Umstände schaffen ideale Voraussetzungen für einen besonders hohen Lernerfolg.
Flipped Classroom ist ein didaktisches Konzept, welches sich an den modernen pädagogischen Grundsätzen orientiert. Der Trend bewegt sich weg vom Frontalunterricht mit der klassischen Rollenverteilung. Lehrerinnen und Lehrer übernehmen in zunehmendem Maße die Funktion als Begleiter. Die Kinder und Jugendlichen setzen sich zu Hause mit den Inhalten auseinander. Für den praktischen Teil ist der Fachunterricht vorgesehen. Das Ziel besteht darin, Schülerinnen und Schüler so früh wie möglich zur Eigenverantwortlichkeit anzuleiten. Auch für Lehrkräfte ist die neue Methode von Vorteil: Der Lernstoff muss nicht mehr auf wenige Unterrichtsstunden komprimiert werden. Diese strukturelle Veränderung wird von den meisten Lehrerinnen und Lehrern als Entlastung in ihrem arbeitsreichen Alltag empfunden.